Auditive Barrierefreiheit: 5 UX-Tipps für digitale Produkte & SaaS
11.09.2025
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Patrick Hupka
Motorische Barrierefreiheit: Wie man Software & Apps für hörbehinderte Menschen barrierefrei gestaltet. 5 praktische Tipps.
Was bedeutet auditive Barrierefreiheit
Wenn man an Barrierefreiheit denkt, kommen einem wahrscheinlich als Erstes visuelle Aspekte in den Sinn: starke Farbkontraste, gut lesbare Schriftarten oder die Bedienbarkeit per Tastatur. Doch es gibt noch weitere Aspekte. Mal angenommen, man schaut Netflix mit stumm geschaltetem Ton. Ohne Untertitel versteht man nichts.
Auditive Barrierefreiheit bedeutet: Deine Software funktioniert auch ohne Ton perfekt.
Das betrifft nicht nur Menschen mit dauerhafter Schwerhörigkeit, sondern auch
Kollegen im lauten Großraumbüro
Pendler ohne Kopfhörer
Eltern, die das Baby nicht wecken wollen
Das macht das Thema für eine breite Zielgruppe relevant und ist dadurch eine Investition in das eigene Produkt und eine Chance die Nutzerbasis zu vergrößern bzw. sich von der Konkurrenz abzusetzen.
In diesem Artikel zeige ich dir, wie man digitale Produkte für diese Nutzergruppe optimiert. Wir gehen die wichtigsten Prinzipien durch und erkunden praktische Quick-Wins, die man sofort umsetzen kann.
Auditive Barrierefreiheit verstehen: Grundlagen für eine bessere User Experience
Wie andere Einschränkungen sind auch auditive Einschränkungen nicht schwarz-weiß. Es gibt viel mehr als nur "hörend" oder "gehörlos".
Die verschiedenen Arten von Höreinschränkungen:
Schwerhörigkeit (von leicht bis stark)
Tinnitus - das nervige Pfeifen im Ohr
Hyperakusis - manche Geräusche tun richtig weh
Temporäre Probleme (Erkältung, verstopfte Ohren)
Die Deaf-Community: Eine eigene Kultur
250.000 Deutsche nutzen die deutsche Gebärdensprache als Hauptsprache (Quelle). Für sie ist Gehörlosigkeit keine "Behinderung", sondern eine kulturelle Identität.
Wichtig zu wissen: Gebärdensprache ist nicht einfach "Deutsch mit Händen". Sie hat ihre eigene Grammatik und Struktur.
Was das für digitale Produkte bedeutet
Denk dein Produkt nicht nur technisch, sondern auch kulturell inklusiv:
Ersetze jeden Ton durch etwas Sichtbares
Einfache Sprache in Texten verwenden
Visuelle Kommunikation bevorzugen
Gebärdensprache-Videos für sehr wichtige Inhalte anbieten
Technische Hilfsmittel für Barrierefreiheit im Alltag & in Software
Zuhause
Lichtsignalanlagen (wandeln Klingeln in Licht/Vibration um), spezielle Telefone mit Verstärkern, Rauchmelder mit Lichtblitzen und Vibration.
Mobil
Funkbasierte Übertragungsanlagen, Spracherkennungs-Apps, barrierefreie Smartphones mit visuellen Benachrichtigungen.
Öffentlich
Induktionsschleifen und FM-Anlagen für Veranstaltungen, die Sprache direkt an Hörgeräte übertragen. (Quelle)
Prinzipien von Deafspace im UX-Design
Der Begriff "Deafspace" (Quelle) stammt aus der Architektur und beschreibt, wie Räume für Menschen mit Hörbehinderung optimiert werden können. Es geht um offene Grundrisse, gute Beleuchtung und visuelle Klarheit. Prinzipien, die sich auch perfekt auf digitale Produkte übertragen lassen:
1. Aufräumen statt überladen
Klares, sauberes Interface
Wichtige Elemente hervorheben
Unwichtiges weglassen
Wie ein gut organisiertes Büro: Man findet sofort, was man suchst.
2. Sichtbarkeit maximieren
Icons deutlich erkennbar machen
Wie gute Beleuchtung im Raum: Alles ist klar zu erkennen.
3. Ton durch Sichtbares ersetzen
Jeder Piepton wird zu einem visuellen Signal
Vibration bei mobilen Apps nutzen
Farbwechsel bei wichtigen Aktionen
Wie ein Blinklicht der Türklingel: Besucher sehen, dass jemand da ist.
5 Quick-Wins für auditive Barrierefreiheit in Software Produkten
Genug der Theorie. Jetzt geht es an die Praxis. Hier sind fünf Tipps für dich, die du mit wenig Aufwand umsetzen kannst. Diese einfachen Maßnahmen helfen dir, dein Produkt barrierefreier zu gestalten und die Usability für alle Nutzer zu erhöhen
Verlasse dich nicht auf nur einen Sinn
Visuelles Feedback ist Pflicht! Ein "Pling" bei einer neuen Benachrichtigung sollte immer von einem aufleuchtenden Icon, einem farbigen Punkt oder einer Einblendung begleitet werden.
Nutze zusätzlich haptisches Feedback, vor allem bei mobilen Anwendungen kannst du Vibratiosmuster einsetzen, um wichtige Ereignisse zu signalisieren.

So machst du Audio- und Videoinhalte barrierefrei
Gerade wenn dein digitales Produkt Videos, Webinare oder Podcasts nutzt, sind alternative Formate entscheidend.

Biete zu jedem Audio- oder Videoinhalt eine textbasierte Alternative an. Untertitel sind für alle nützlich, die das Video stumm schauen. Closed Captions (CC) gehen einen Schritt weiter und beschreiben auch nicht-sprachliche Geräusche wie z.B. "Hund bellt”.
Autoplay-Videos mit Ton sind nicht nur für Nutzer mit Hörgeräte oder Cochlea-Implantate störend. Verzichte daher komplett auf Autoplay-Inhalte.
Wenn möglich, ergänze wichtige Videos durch ein eingeblendetes Gebärdensprachvideo. Dies ist besonders relevant für die Deaf-Community, da Gebärdensprachen eine eigene Grammatik und Syntax haben.

Biete alternative Kontaktmöglichkeiten an
Oft ist der telefonische Support der schnellste Weg, aber dieser Weg ist nicht für alle zugänglich. Stelle sicher, dass Anfragen immer auch über Chat oder E-Mail möglich sind. Das hilft auch, um Support-Anfragen effizient an die richtigen Stellen weiterzuleiten.

Mehr zum Thema Formulare findest du in meinem Artikel über barrierefreie Formulare.
User-Interviews mit betroffenen Personen
Um wirklich zu verstehen, wo die Herausforderungen liegen, sprich direkt mit Betroffenen.

Betroffene wissen am besten, was sie brauchen und wo die größten Probleme liegen. Solche Interviews sind Gold wert, um Barrieren im eigenen Produkt zu erkennen.
Für ein Interview mit einer gehörlosen Person benötigst du möglicherweise einen Gebärdensprachdolmetscher. Es lohnt sich, in diesen Aufwand zu investieren, um wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen.
Tools & Richtlinien für auditive Barrierefreiheit
Man braucht keine teuren Speziallösungen, um auditive Barrierefreiheit sicherzustellen. Die meisten Tools für auditive Accessibility sind kostenlos oder bereits in deiner Entwicklungsumgebung integriert.
WCAG 2.2 Guidelines für Audio-Inhalte
Die Web Content Accessibility Guidelines definieren klare Standards für digitale Barrierefreiheit:
Level A: Untertitel für aufgezeichnete Videos
Level AA: Live-Captions für Streams und Webinare
Level AAA: Gebärdensprache-Videos für wichtige Inhalte
Level AA reicht für die meisten Produkte aus. Level AAA ist nur bei kritischen Anwendungen notwendig.
Testing-Tools
Screen Reader:
NVDA (Windows): Kostenlos und weit verbreitet
VoiceOver (Mac): Bereits installiert, einfacher Einstieg
JAWS: Marktführer, aber kostenpflichtig
Browser-Extensions:
axe DevTools: Automatische Accessibility-Scans
WAVE: Visuelle Darstellung von Barrieren
Lighthouse: Google's integrierter Accessibility-Audit
Caption-Tools für Video-Content
YouTube Auto-Captions: Kostenlos, aber Nachbearbeitung nötig
Rev.com: Professionelle Untertitel, $1-3 pro Minute
Otter.ai: Live-Transkription für Zoom Webinare
Whisper by OpenAI: Spracherkennung, Open Source
Starte am besten mit Auto-Captions und korrigiere nur Fachbegriffe manuell.
Fazit: Auditive Barrierefreiheit als User Experience Vorteil
Die Arbeit an barrierefreier Software mag wie eine aufwändige Pflicht wirken. Doch jede Verbesserung ist eine Investition in die Zukunft deines Produkts. Die
Quick-Wins aus diesem Artikel zeigen, dass du schon mit gezielten Maßnahmen eine große Wirkung erzielen kannst.
Wenn du die Barrieren in deinem Produkt abbaust, steigerst du nicht nur die Usability für eine große Zielgruppe, sondern reduzierst auch Support-Anfragen, verbesserst die Kundenbindung und schaffst einen Wettbewerbsvorteil.
Bereit, den nächsten Schritt zu gehen?
Ich helfe dir, dein digitales Produkt barrierefrei zu gestalten und sein volles Potenzial auszuschöpfen. Kontaktiere mich und wir identifizieren gemeinsam die Chancen und Risiken in deinem Produkt.
Häufig gestellte Fragen (FAQs)
Was ist auditive Barrierefreiheit?
Auditive Barrierefreiheit bedeutet, dass digitale Inhalte auch ohne Hörsinn vollständig nutzbar sind. Im Gegensatz zu visueller Barrierefreiheit fokussiert sie auf:
Visuelle Alternativen zu Audiosignalen
Haptisches Feedback für mobile Apps
Textbasierte Kommunikationskanäle
Screen Reader optimierte Inhalte
Während die visuelle Barrierefreiheit Farbkontraste und Schriftgrößen optimiert, ersetzt auditive Barrierefreiheit jeden Ton durch sichtbare oder fühlbare Signale.
Warum ist auditive Barrierefreiheit für mein Unternehmen wichtig?
Auditive Barrierefreiheit erweitert deine potenzielle Nutzerbasis und verbessert die Usability deines Produkts. Das führt zu weniger Supportanfragen, höherer Kundenbindung und verschafft dir in manchen Bereichen einen Wettbewerbsvorteil.
Sind Untertitel dasselbe wie Closed Captions (CC)?
Nein. Untertitel sind primär für die Übersetzung von gesprochenem Text gedacht, während Closed Captions zusätzlich auch akustische Informationen wie Geräusche oder Musik beschreiben.
Wie kann ich die auditive Barrierefreiheit meines Produkts testen?
Du kannst dein Produkt mit ausgeschaltetem Ton testen, Interviews mit Betroffenen führen oder die Kompatibilität mit gängigen Hörhilfen und assistiven Technologien überprüfen.

Patrick Hupka
Freelance UI/UX Designer mit 16+ Jahren Erfahrung. Ich gestalte intuitive, nutzerzentrierte digitale Produkte. Mein Ziel: Technologie mühelos nutzbar machen und echten Mehrwert schaffen.
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